Erkundungsprojekt Selbsthilfe: Reicht das “soziale Netz” für mich noch aus?

Staatliche Daseinsvorsorge, die Solidargemeinschaft, die Versicherung… All dies hatte mal einen guten Klang, selbst wenn hinter der freundlichen Fassade vielleicht auch nicht immer alles so war, wie es hätte sein müssen. Aber das Leben war berechenbarer. Mit einem Einkommen konnte man noch eine Familie ernähren. Die Krankenkasse zahlte nicht jeden Luxus, aber sie zahlte. Auch für Brille und Zahnersatz. Und für vorbeugende und rehabilitative Kuren. Der Arzt kam, wenn man ihn brauchte. Die Sprechstunden waren voll, aber ein kurzfristiger Termin war kein Problem. Im Krankenhaus gab es noch keine Herztransplantationen, aber es war noch Zeit für die Pflege. Für ambulante Hilfen gab es die Gemeindeschwester. Lediglich die stationäre Pflege lag, wie auch die Psychiatrie, schon immer im Argen.
Die Renten waren sicher. Auch die Betriebsrenten. Eine Lebensversicherung brachte eine gute Rendite, das Sparbuch einen vernünftigen Zins. Banken waren seriöse Partner ihrer Kunden, Versicherungen erbrachten die vereinbarten Leistungen – ohne lange Diskussionen, hundert juristische Tricks oder hinhaltende, den Versicherungsnehmer zermürbende Zahlungsverweigerung. Die staatliche Verwaltung, die Justiz, die öffentliche Ordnung…, alles funktionierte mit preußischer Disziplin. Der Staat tat das Notwendige, um die Lebensbedürfnisse seiner Bürger zu sichern.
Seit das staatssozialistische Gegenmodell im Osten, dessen Bestand sich auf Panzer und Raketen sowie territoriale Ausdehnung einer Hegemonialmacht gründete, statt auf eine freiheitliche Gesellschaftsordnung und ein besseres Wirtschaftsmodell, sang- und klanglos untergegangen ist, wurde die kapitalistische Wirtschaftsform nach und nach ihres sozialstaatlichen Rahmens entkleidet. Die Moral schien entbehrlich, wo doch der Markt angeblich alles regelte. Doch heute wissen wir, dass der neoliberal “entfesselte” und globalisierte Kapitalismus nur den Starken nützt. Auf Kosten der Schwächeren. Auch deren Geld regiert die Welt, aber erst, nachdem es den Besitzer gewechselt hat und bei einer Minderheit gelandet ist.
Billionen wurden für die staatliche Rettung des internationalen Banken- und Währungssystems verbrannt. Auf Kosten der Ersparnisse der Bevölkerungsmehrheit, aber zu Gunsten der Vermögenden und der Wirtschaft, während der Staat die von allen bezahlte Infrastruktur kaputt sparte und verkommen ließ. Und immer noch wurden viele Milliarden verschwendet durch Gesetze, deren Wirkung man nicht bedachte oder die den vermeintlich Begünstigten nur lächerliche Entlastungen oder Mehreinnahmen brachten. Derzeit herrscht Mangel überall: Zu wenig bezahlbare Wohnungen, marode Straßen und Schulen, Personalmangel bei Lehrern, Pflegekräften, Polizei, Justiz und Verwaltung. Und natürlich wird das Ehrenamt um so höher geschätzt, wie es eine Lückenbüßerfunktion im zerbröselnden Sozialstaat übernehmen soll – nur eben nicht im notwendigen Maß gefördert. Denn es ist ja kein Geld mehr da.
Nun heißt es privat vorsorgen und privat zahlen. Und uneigennützig zu helfen, wenn man will und kann.
Viele stecken im Angesicht dieser Situation noch immer den Kopf in den Sand. Und die Politik hat eine hohe Kunst der Rhetorik entwickelt, um den Wählern den Eindruck zu vermitteln, als werde der Staat seiner Aufgabe der Daseinsvorsorge noch gerecht. Aber machen wir uns nichts vor: Es stimmt nicht.
Aber Jammern und verbaler Radikalismus ändern an der sich abzeichnenden Krise des Sozialstaats nichts. Man muss sich einerseits auf die eigenen Kräfte besinnen, aber andererseits auch auf das, was Kraft verleiht, wenn diese zu erlahmen drohen oder man den gewohnten politischen Institutionen und der “öffentlichen Moral” nicht mehr über den Weg traut. Die christliche Wertordnung und Solidarität ist neben dem sozialistischen Modell hier durchaus ein ernst zu nehmendes Angebot, das schon getragen hat, lange bevor es letzteres gab.
Aber der Christ ist auch “von dieser Welt” und setzt sich mit deren Bedingungen konstruktiv auseinander. Es gilt zu erkunden, was an den vorhandenen Strukturen überhaupt noch trägt, wenn auch vielleicht nicht mehr in dem gewohnten Maße. Ferner: Was kann die notwendigen Unterstützungssysteme noch stabilisieren, ergänzen oder sogar ersetzen? Was muss der Einzelne tun? Wo kann die Gemeinschaft helfen? Wie kommt man – auch gegen Widerstände aus Verwaltung oder Privatwirtschaft – zu seinem Recht?
Sinn dieses Erkundungsprojektes ist es, einen realitätsgerechten Sozialatlas für den Vogelsbergkreis zu erstellen, der alle Wechselfälle des Lebens berücksichtigt, sich vor Ort einschlägige Expertise zu erschließen, das Angebot der diversen örtlichen und überörtlichen Institutionen bis hin zu Beratungsstellen und Selbsthilfe-Plattformen im Internet auf ihre Brauchbarkeit hin zu testen.
Ein spannender Weg von der Ohnmacht des Wahlbürgers zur aktiven Selbsthilfe und gelebten Solidarität, der Mut machen kann, aber auch einige Zeit in Anspruch nimmt

 

Eingestellt von Ulrich Lange

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